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Festansprache in Bettlach

1.-August-Feier in Bettlach 2023


Ansprache von Frau Landammann Brigit Wyss

Vorsteherin Volkswirtschaftsdepartement Kanton Solothurn

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Liebe Bettlacherinnen und Bettlacher

Liebe Mitbürger und Mitbürgerinnen

Liebe Gäste

 

Die moderne Schweiz feiert dieses Jahr ihren 175. Geburtstag aufgrund der Bundesverfassung von 1848. Nur ein Jahr vorher, im November 1847, ist der Sonderbundskrieg ausgebrochen: Eidgenossen haben gegen Eidgenossen gekämpft, die Liberalen gegen die Konservativen und die Schweiz stand kurz davor auseinander zu brechen. Die umliegenden Grossmächte haben mit Argusaugen verfolgt, was in der Schweiz passiert und es hat eine Intervention gedroht.

 

General Dufour und seine eidgenössischen Tagsatzungstruppen sind zahlenmässig und strategisch dem Sonderbund der sieben katholischen Kantone klar überlegen gewesen. Der Sonderbundskrieg hat vom 3. bis zum 29. November 1847 gedauert, also 25 Tage. Es hat knapp 100 Tote und rund 500 Verwundete zu beklagen gegeben. Der Bürgerkrieg von 1847 ist bis heute der letzte bewaffnete Konflikt auf Schweizer Boden gewesen.

 

Dass die Schweiz trotzdem nicht einmal ein Jahr später, am 12. September 1848, die neue Bundesverfassung verabschieden konnte, hatte auch mit der Art zu tun, wie man mit dem Sieg umgegangen ist. General Dufour war überzeugt, dass Kriege nicht aus der Welt zu schaffen seien und für immer eine Geissel der Menschheit bleiben werde. Trotz oder gerade wegen dem war seine Devise, kein Sieg um jeden Preis.

 

Zeit seines Lebens hat General Dufour alles daran gesetzt, die verheerenden Folgen des Krieges wenn immer möglich zu mildern. Es ist deshalb kein Zufall, dass er unter anderem der Gründungspräsident des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes, IKRK, gewesen ist.

 

Sobald der Sieg aber entschieden sei, so sollen Offiziere und Soldaten ihre Rachegefühle vergessen und die Besiegten verschonen. So hat der Tagesbefehl von General Dufour am 3. November 1847 gelautet. Er konnte trotzdem nicht verhindern, dass es zu Übergriffen gekommen ist. Nicht alle Offiziere und Truppen haben sich an diesen Tagesbefehl gehalten und auch die Zivilbevölkerung hat einen hohen Preis bezahlen müssen.

 

Der Sonderbund ist besiegt, aber trotz allem nicht vernichtend geschlagen oder gedemütigt worden. Damit war der gemeinsame Weg in die Zukunft, zu Frieden und Wohlstand, offen geblieben.

 

Mehrere Kantone haben die neue Bundesverfassung von 1848 abgelehnt und auch jede von den drei Totalrevisionen, welche in den letzten 175 Jahren durchgeführt wurden. Trotzdem ist es der Schweiz bereits mit der Bundesverfassung von 1848 gelungen, die Ansprüche der sprachlichen und konfessionellen Minderheiten so zu befriedigen, dass aus dem ehemaligen Staatenbund ein Bundesstaat wurde.

 

Der Bevölkerung in den ablehnenden Kantonen ist die nationale Vereinheitlichung zu weit gegangen. Ihre Bewohner und wahrscheinlich auch ihre Bewohnerinnen haben sich weiterhin primär mit ihrem Dorf und mit ihrem Kanton identifiziert.

 

Trotzdem wurde der Mehrheitsentscheid auch von den ablehnenden Kantonen immer mitgetragen. Sie haben gewusst, dass der Schweizerischer Föderalismus eine Garantie dafür ist, dass die Macht aufgeteilt bleibt zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden und dass jede politische Ebene ihre eigenen Aufgaben hat. In der Bundesverfassung von 1848 ist neben der nationalen Einheit gleichzeitig auch die kantonale Souveränität verankert worden: Die Kantone sind souverän, solange sie nicht durch die Bundesverfassung beschränkt werden. Und auch die Autonomie der Gemeinden wird bis heute durch die Bundesverfassung gewährleistet.

 

Übrigens: 1848 wurden die Frauen nicht explizit von den politischen Rechten ausgeschlossen; es war einfach kein Thema, weil der Staat als entschieden männlich definiert wurde. Es ist denn paradoxerweise auch unserem politischen System geschuldet, dass das Frauenstimmrecht im europäischen Vergleich erst spät eingeführt worden ist. In anderen europäischen Ländern hat es meistens nur einen einfachen Parlamentsbeschluss gebraucht – bei uns hat es die Mehrheit der stimmberechtigten Männer gebraucht. Die Befürchtungen bei der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 sind nicht eingetroffen: es kam zu keiner Revolution, Frauen leisten nach wie vor den grössten Teil der Haus- und Familienarbeit und sowohl Politiker als auch Politikerinnen können gleichermassen sehr temperamentvoll argumentieren. Die politische Mitsprache der Frauen ist eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit geworden; Themen wie Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit oder der Ausbau des Gesundheitswesens haben durch das Frauenstimmrecht aber mehr Gewicht erhalten.

 

Die Verfassung von 1848 ist ein genialer Wurf gewesen. Sie hat uns Stabilität gebracht und gleichzeitig ermöglicht, dass sich die Schweiz immer wieder an neue Rahmenbedingungen anpassen kann und so flexibel bleibt. Unser politisches System funktioniert, weil wir zwangsläufig gelernt haben, Konflikt durch Kompromisse zu lösen. Dank dieser Fähigkeit können wir uns anpassen sowohl an innen- als auch aussenpolitische Veränderungen und zwar so, dass am Schluss eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung dahinter steht.

 

Heute werden wir in der Regel viermal pro Jahr an die Urne gerufen, stimmen durchschnittlich über 15 eidgenössische und etliche kantonale und kommunale Vorlagen ab. Ich weiss aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis, dass das Abstimmungscouvert nicht selten direkt im Altpapier landet. Als Staatsbürgerin und als Politikerin bedaure ich das sehr und ich probiere immer wieder, Gegensteuer zu geben und eine Lanze für die Politik zu brechen.

 

In der Regel verpasst mehr als die Hälfte der stimmberechtigen Bevölkerung ihre Chance auf Mitbestimmung; ein Recht, von dem Millionen von Menschen nur träumen können. Unsere Demokratie ist sicher nicht perfekt, auch wenn sie weltweit immer wieder als hervorragend funktionierendes Beispiel dargestellt wird. Die Gefahr von Manipulationen, Reformstau oder Abstimmungskämpfen, welche Gräben kreuz und quer durch die Schweiz ziehen, sind nicht förderlich für die Demokratie. Umso wichtiger ist es, dass wir aufmerksam bleiben und unsere Rechte konsequent wahrnehmen, damit sich die direkte Demokratie weiterentwickelt und verbessern kann.

 

Freiheit ist die Basis der Demokratie und es gibt sie für den einzelnen Menschen und für Minderheiten nur, wenn die Gewaltentrennung, Grundrechte/Menschenrechte, Religionsfreiheit und Trennung von Kirche und Staat eingehalten werden.

 

Wir leben in Zeiten, welche für die Demokratie und besonders für die direkte Demokratie eigentliche Stresstests sind. Es hat Notrecht gebraucht, um die Pandemie zu bewältigen. Ein Begriff, der so in der Bundesverfassung nicht vorkommt. Das Notrecht wurde abgestützt auf den Artikel 185 BV über die äussere und innere Sicherheit. Gestützt auf diesen Artikel hat der Bundesrat Notverordnungen und Verfügungen erlassen; im Kanton haben wir es genau gleich gemacht.

 

Über das Covid-Gesetz konnten wir immerhin dreimal abstimmen. Damit war die Schweiz – ausser Liechtenstein – das einzige Land weltweit, in dem das Volk über die Gesetzgebung zur Bekämpfung einer Pandemie hat abstimmen können. Die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates hat ausserdem die konkreten Corona-Massnahmen überprüft und keine grundlegenden Mängel festgestellt. Mit Blick auf künftige Pandemien schlägt sie aber vor, die juristische Kontrolle in Krisenzeiten zu stärken.

 

In der Bundesverfassung steht auch, dass die auswärtigen Angelegenheiten Sache des Bundes sind. Aktuell müssen Entscheide getroffen werden, die aus meiner Sicht von der Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen werden. Im unsäglichen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine steht die Schweiz klar auf der Seite des Völkerrechts. Wir unterstützten die Sanktionen der EU und leisten humanitäre und wirtschaftliche Unterstützung auch vor Ort. Ob die Schweiz die Ukraine auch militärisch unterstützen soll, ist dagegen sehr umstritten. Je länger aber der Krieg geht, umso schwieriger wird es, unsere europäischen Partner von der bisherigen Auslegung der Neutralität zu überzeugen.

 

Es ist ein grosses Privileg auf 175 Jahre Frieden im eigenen Land zurückschauen zu können. Dafür bin ich sehr dankbar – gerade auch als Frau. Die Schweiz ist eine Erfolgsgeschichte, die auch unter veränderten internationalen Bedingen weitergehen kann, wenn wir den Mut zu Veränderungen haben und wenn wir uns besser vernetzen. Die Frage, in welche Richtung wir gehen sollen, ist nicht einfach zu beantworten. Es braucht Ideen oder Visionen für eine lebenswerte, nachhaltige Zukunft, auch wenn Helmut Schmidt, ehemaliger deutscher Bundeskanzler, gesagt habe: wer Visionen habe, solle zum Doktor gehen.

 

Persönlich halte ich mich in Sachen Visionen lieber an Erich Fromm, deutscher Psychoanalytiker: "Wenn das Leben keine Vision hat, nach der man sich sehnt, 

(…) dann gibt es auch kein Motiv, sich anzustrengen".